#176 | Das Mädchen, das sich in den hölzernen König verliebte (mit Xenia Bayer)

Xenia Bayer erzählt Euch in ihrem Kinderpodcast etwas über ein ungezogenes, widerspenstiges und freches Mädchen, das sich unsterblich verliebte. Aber die Liebe galt nicht einem schönen Prinzen, sondern einem König – einem König aus Holz: dem Schachkönig.

Das Mädchen geriet später in die Turbulenzen des zweiten Weltkrieges. Dennoch wurde sie die zweitbeste Spielerin der Welt, auch dank der Förderung durch den berühmten Siegbert Tarrasch. Im Schachspiel sah sie ihre Rettung, ihre Freiheit. Und wenn Vera Menchik nicht gewesen wäre, dann wäre sie sicherlich Weltmeisterin geworden.

Viel Hörvergnügen bei dieser schönen Geschichte!

Episodenskript

Hallo liebe Zuhörer,

ich heiße Xenia Bayer und das ist mein Podcast „Schach für Kinder“!

„Das Mädchen, das sich in den hölzernen König verliebte“

„Als ich klein und noch ganz jung war, zeichnete ich mich dadurch aus, ungezogen, widerspenstig und frech zu sein. Ehrlich gesagt zeichnen mich einige dieser Eigenschaften noch immer aus. Mit ungefähr zwölf oder vierzehn verliebte ich mich unsterblich und Hals über Kopf. Das war an sich nicht sonderlich erstaunlich, weil es sicher fast allen Mädchen in diesem Alter so geht, die von der Liebe träumen und sich nach einem verzauberten Prinzen sehnen.

Aber meine Liebe war anders geartet, und sicher wird es Sie ( … ) überraschen, wenn Sie hören, auf wen sich meine Liebe richtete: auf einen König, einen schlanken und rätselhaften König aus Holz, nachdenklich und melancholisch, der König des edelsten und geistreichsten aller Spiele, auf einen Schachkönig.


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Beseelt von der Liebe

Er vereinnahmte alle meine Gedanke und Träume, und ich war nur dann glücklich, wenn ich mit ihm zusammen sein und ihm meine Hoffnungen und Pläne anvertrauen konnte.

Wie oft wies ich die Puppen und Spielzeuge zurück, die meine Eltern und Freunde mir schenkten, um in der Einsamkeit seiner Gesellschaft die köstlichsten Momente meiner Kindheit zu verleben; und wie untröstlich weinte ich, wenn wir bei einer Partie gegen Freunde oder einen meiner Brüder die Waffen strecken mussten angesichts des anstürmenden Feindes. Unter Tränen bat ich ihn, mir meine Achtlosigkeit zu verzeihen, und versprach ihm feierlich, ihn nie wieder im Stich zu lassen.

Er verstand mich vollkommen, da bin ich mir ganz sicher, und als erwiderte er meine reinen Gefühle, unterstützte er mich in der Zukunft. Beseelt von dieser großen Liebe formte sich mein Charakter.“ („ASÍ JUEGA UNA MUJER“/„So spielt eine Frau“ von SONJA GRAF)

Schach – Rettung, Freiheit, Zukunft

Meine Kindheit war alles andere als leicht: ich hatte einen despotischen Vater und eine Mutter, die schwerhörig und dadurch stark eingeschränkt war. Mein Vater, selber ein begeisterter Schachspieler, hat „…mich nicht mal zum Schachspielen gehen lassen“: „Ein junges Mädchen, das mit den Männern Schach spielen will – völlig unmöglich“.

Ich sah aber im Schach meine Rettung, meine Freiheit, meine Zukunft!

Mit 16 Jahren nahm ich aus dem Elternhaus Reissaus und mit 17 wurde ich zur Münchner Schachmeisterin.

Ich nutzte jede Gelegenheit, um Schach zu spielen: angefangen in den Münchener Schachklubs, reiste ich durch ganz Europa.

nternationale Turniere

Das Damenturnier 1932 in Wien gewann ich mit 6,5 Punkten aus 8 vor der Österreicherin Gisela Harum. Die Wiener Schachzeitung schrieb über mich:

„Die markanteste Erscheinung des im Schachverein Hietzing ausgetragenen Damenturniers war die Persönlichkeit der Siegerin, Fräulein G. Aus Russland stammend, lebt Fräulein G. in München und hat sich unter der schachlichen Führung von Dr. Tarrasch und Dr. Dyckhoff zu einer angesehenen Spielerin entwickelt. Wie sehr der gute Ruf, der ihr vorausging, berechtigt war, hat sie in Wien durch ihren einwandfreien Sieg erwiesen. Mit der Weltmeisterin Miss Vera Menchik darf man sie wohl noch nicht vergleichen; die schachliche Entwicklung von Fräulein G. ist aber noch keineswegs abgeschlossen und bei ihren guten Anlagen ist es durchaus möglich, dass ihre Spielstärke die hohe Stufe der derzeitigen Weltmeisterin in absehbarer Zeit erreichen wird. …“

Duelle mit Vera Menchik

Zwei Jahre später in Amsterdam bekam ich die Chance mit der berühmten Vera Menchik zu kämpfen. Unser Zweitkampf endete für mich mit einem Sieg und drei Niederlagen. Damals war ich der ersten Frauen-Weltmeisterin noch nicht gewachsen. 

1937 in Österreich versuchte ich mein Glück wieder: zwei Partien gegen Vera gewann ich, fünf Partien gingen Remis aus und neun verlor ich.

Ich gab jedoch nicht auf und im selben Jahr erzielte ich den 3. Platz bei der 7. Frauen-Schachweltmeisterschaft.

Bei der Schacholympiade 1939 in Buenos Aires „ahnte …(ich) jedoch, dass dieses zweite Mal, bei dem … (wir) gegeneinander um den Titel spielen würden, das entscheidende sein würde“. („Die Schachspieler von Buenos Aires“ von Ariel Magnus)

„Gegen Menchik, als sie Weltmeisterin war, hatte ich praktisch eine gewonnene Partie, aber dann machte ich drei schwache Züge, die mich zur Aufgabe zwangen. Nie verspürte ich einen größeren Schmerz in meiner Schachkarriere“. (Interview von S.Graf)

Ich wurde zur Vizeweltmeisterin.

Sonja Graf

Der Traum von der großen Bühne

Alle Profischachspieler waren hauptsächlich Männer. So entdeckte ich für mich den Seitenscheitel, „der …(mich) in Kombination mit einem richtig kurzen Haarschnitt und eventuell einer Krawatte wie ein Mann aussehen ließ. Feminin konnten alle Frauen sein, …, Maskulinität jedoch war eine Art von Charme, die nur einigen Privilegierten vorbehalten war…

Doch dieses prahlerische Gehabe in der Kleidung und selbst im Denken verbarg eine tiefe Frustration darüber, dass … (ich) bei den Männern in Bezug auf Schach noch nicht hatte glänzen können. …(Ich) hatte zwar gegen einige namhafte Spieler wie Rudolf Spielmann oder Paul Keres gewonnen oder Remis gespielt, aber immer beim Simultanschach oder bei Turnieren niedrigeren Rangs. Auf der großen Bühne gegen sie zu spielen- und zu gewinnen!- war … (mein) Traum…“ („Die Schachspieler von Buenos Aires“ von Ariel Magnus)

Zeit in Argentinien

Wegen des zweiten Weltkrieges blieb ich in Argentinien. Dort nahm ich an allen möglichen Meisterturnieren teil, allerdings ohne großen Erfolg: die männliche Konkurrenz war zu stark für mich. In dem Turnier des Circulo de Ajedrez im Oktober 1939 wurde ich Vorletzte, in Mar del Plata im März 1941 und ein Jahr später sogar Letzte.

Über meine Liebe zu Schach, über meine Schachpartien und über mein Leben habe ich in Argentinien in der spanischen Sprache zwei Bücher geschrieben: „Yo soy Susann“/ „Ich bin Susann“ und „ASÍ JUEGA UNA MUJER“/„So spielt eine Frau“.

Das Kandidatenturnier zur Schachweltmeisterschaft 1955 in Moskau stellte für mich die letzte Gelegenheit dar, in die Spitze der Schachwelt zurückzukehren. Ich habe es genossen, noch einmal im Rampenlicht zu stehen. Mit meiner Kleidung verriet ich dem Publikum jedes Mal, welches Ergebnis ich erwartete. Wenn ich zuversichtlich war, dass ich gewinnen würde, kleidete ich mich als „Cowboy“. Bei einem erwarteten Unentschieden wählte ich ein französisches Kostüm, und wenn ich das Gefühl hatte, dass ich die heutige Partie verlieren würde, trat ich als spanischer Torero auf. „Ich begann das Moskauer Turnier wohl zu aggressiv, aber schon das Treffen mit Lazarević, das betrüblich für mich endete, mahnte mich zur Vorsicht. Meine Gegnerinnen spielten alles andere als schlecht.“ (Interview von S.Graf)

Am Ende reichte es nur für Platz 10.

Susann und Sonja

Ich habe mein Zuhause mittlerweile in den USA gefunden, wo ich meine Leidenschaft für das Schachspiel fortsetzte. In den Jahren 1957 und 1964 konnte ich die amerikanische Frauenmeisterschaft für mich gewinnen.

Ein kleines Mädchen, das sich in den hölzernen König verliebte, durchlebte zahlreiche Höhen und Tiefen, um schließlich zu einer der besten Schachspielerinnen der Welt zu werden.

Dieses Mädchen hieß Susann, nannte sich aber Sonja, Sonja Graf.

Bis zum nächsten Mal!

Eure Xenia Bayer


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